Drama

 

Vom Himmel fallen keine Sterne

von Rena Müller

Cover. Vom Himmel fallen keine Sterne, Rena Müller

Cover: T. Lischker

Sahra hat sich immer einen Stern gewünscht. Vom Vater behütet, von der Mutter verachtet, wächst sie zu einer jungen Frau voller Träume heran. Doch die Träume werden zu Albträumen. Statt eines hellen Sterns hält das Schicksal dunkle Schläge für sie bereit.

 

Sahra erlebt Gewalt, Verlust, Schmerz und Einsamkeit. Als ihr die Liebe begegnet, hofft sie auf Glück und eine Zukunft. Doch kann sie die Menschen, die sie liebt, halten? Bekommt sie ihren Stern? Oder gewinnt am Ende das Schicksal?


Leseprobe

 

Vom Himmel fallen keine Sterne

 

Der Tag, an dem Sahra Hallmann ein Leben zerschlägt, ist ein Mittwoch.

Ein gewöhnlicher Tag.

Ein Tag ohne Stern.

 

 

***

 

 

Sie liebte dieses Märchen. Jeden Abend schlug ihr Vater vor, einmal ein anderes Märchen zu lesen. Aber Sahra wollte stets nur das eine hören. ›Das Mädchen mit den Sterntalern‹.

Also las ihr der Vater dieses Märchen immer wieder vor. Sahra merkte sofort, wenn er schluderte, wenn er ein Wort vergaß oder änderte. Sie zupfte ihren Vater dann an der Nase, lachte und rief: »Nicht schummeln, Papa.«

Dann drückte er ihr einen Kuss auf die Nase, lächelte und begann von vorne: »Es war einmal ein kleines Mädchen, deren Vater und Mutter gestorben waren. Die Eltern hatten ihr nichts hinterlassen und es war so arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte, um darin zu wohnen und kein Bettchen mehr, um darin zu schlafen.« Am meisten liebte Sahra das Ende: »Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel.«

Jedes Mal sprang Sahra dann noch einmal aus dem Bett, lief zum Fenster. Dort stand sie und schaute sehnsüchtig zum Nachthimmel empor. »Heute fällt wieder kein Stern vom Himmel, Papa.«, sagte sie und drückte ihre Nase an der Scheibe platt.

Ihr Vater nahm sie auf den Arm, trug sie zurück ins Bett, steckte die Decke fest um ihren kleinen Körper und tupfte mit dem Finger auf jedes ihrer Augen. »Ich glaube daran, mein Sternenkind, dass eines Tages auch für dich ein Stern vom Himmel fällt. Ein Stern, der deinen Namen trägt. Aber jetzt wird geschlafen.«

Sahra liebte dieses abendliche Ritual. Sahra liebte ihren Vater. Der immer für sie da war.

Bis sie sechs Jahre alt wurde.

 

Er hatte es nicht mehr ertragen. Einmal zu oft hatte die Mutter mit ihm gestritten, hatte die Hand gegen ihn erhoben. Einmal zu oft hatten er und Sahra zusammengehalten gegen die Mutter. Die Schultüte, die er liebevoll mit kleinen Geschenken füllte und mit Bildern aus Sahras Lieblingsmärchen beklebte, diese Schultüte hatte die Mutter als kitschig und kindisch bezeichnet. Sie wollte Sahra mit einer einfachen Schultüte voller nützlicher Dinge und ohne Süßigkeiten in das Schulleben starten lassen. Doch der Vater tauschte die traurige Tüte gegen die mit den Sterntalern und Sahra ging an ihrem Einschulungstag mit einer rosa Schultüte voller glitzernder Sterne an seiner Hand in die neue Schule. Er begleitete sie zur Feier, hielt ihre Hand während der Rede der Schulleiterin und ging mit ihr den Weg zu ihrem Klassenraum. Als er ihr lächelnd Mut gemacht hatte, lief sie stolz und aufrecht zu ihrem Platz. Ihr Vater winkte ihr noch einmal zu, dann schloss sich die Tür.

Ihre Mutter war nicht mitgekommen, war beleidigt wegen der getauschten Schultüten. Andere Verwandte hatte Sahra nicht, jedenfalls kannte sie keine. Die Eltern ihres Vaters lebten nicht mehr und über die Familie ihrer Mutter wurde zuhause nicht gesprochen.

Als sie nach diesem aufregenden Tag nach Hause kam, war der Vater fort. Erst später erinnerte sie sich an seine Worte vom Abend zuvor: »Meine kleine Elfe, mein Sternenmädchen. Lass stets deine Sterne funkeln. Und vergiss nie, wie lieb ich dich habe. Ich werde immer für dich da sein. Und du wirst mich finden, wenn du mich brauchst.«

 

Sahra kam ohne größere Schwierigkeiten durch die Schule. Im Mittelpunkt stand sie nie, aber sie war dabei. Sie wurde zu Geburtstagen eingeladen, obwohl sie ihren selbst nie feierte. Zu ihr nach Hause kamen die anderen nicht. Lisa-Marie und Annika, ihre Freundinnen in der Grundschule, hatten Sahra ein paar Mal besuchen wollen, hatten mutig an ihrer Haustür geklingelt, wollten mit ihr spielen.

»Sahra hat keine Zeit zum Spielen, sie muss lernen.«, beschied Birgit Hallmann den Kindern dann. Oder »Ich will keine wilden Kinder im Haus. Geht woanders spielen.« Die Mädchen kamen nicht wieder.

In der vierten Klasse wusste sie, was sie einmal werden wollte: Lehrerin. Sahra liebte ihre Klassenlehrerin, Frau Brugginger. So wie sie wollte sie sein. Frau Brugginger wurde Sahras Vorbild. Dafür lernte sie gern.

Die Lehrerin unterstützte sie, soweit sie konnte. Daniela Brugginger mochte Sahra, ihre stille, höfliche Art und ihren Intellekt. Das förderte sie, so gut es ging. »Du kannst das schaffen, Sahra. Wenn ich sehe, wie geschickt du mit den Kleinen aus der ersten Klasse umgehst, wie du dich als Schülerlotsin besonders um die Schulanfänger kümmerst, dann glaube ich fest, dass du einmal eine wunderbare Lehrerin wirst.«

Sahra wurde rot. Der Lehrerin zu glauben, fiel ihr schwer. Lob war sie nicht gewohnt. Die Mutter konnte besser tadeln, fand immer etwas an Sahra auszusetzen. Warf ihr wohl auch das Verschwinden des Vaters vor. Die Schuld dafür suchte Sahra ohnehin stets bei sich.

Bestimmt hatte sie etwas Böses getan oder ihn geärgert, so dass er ging. Hatte ihn abends mit ihren Märchen gequält, statt ihn sich ausruhen zu lassen. Seine Erwartungen nicht erfüllt, ihn enttäuscht, so wie sie auch für ihre Mutter eine Enttäuschung war. Deswegen war er gegangen.

Ihre Mutter war Sahra keine Hilfe bei Schulaufgaben und sie legte ihr viele kleine Steine in den Weg. Trotzdem schaffte es Sahra bis zum Abitur. Birgit Hallmann, die ihr Geld als Haushälterin des alten Dorfpfarrers verdiente, war gegen Abitur und Studium. »Wozu? Du bist ein Mädchen. Da hat sich bis heut nix dran geändert. Mädchen heiraten und kriegen Kinder. Dabei nützt dir all das Studieren überhaupt nichts. Anpacken musst du können. Und das musst du erstmal lernen, Fräulein Etepetete.«

Sahra blieb ruhig, widersetzte sich ihrer Mutter nur selten. Doch ihren Berufswunsch, den wollte sie durchsetzen. Wollte ihr Leben leben.

Bis zu ihrem 18. Geburtstag.

 

***

 

Sahra steht mit ihrer Tasse Pfefferminztee am Fenster, sieht in den sternenlosen Himmel. Sie streicht mit dem Finger über ihre linke Augenbraue.

Der heftige Wind treibt dunkle Wolken vor sich her wie eine Herde Wildpferde auf der Flucht. Regentropfen peitschen gegen die Fensterscheibe.
Sie hat wieder geträumt. Wie fast jede Nacht. Seit der Traum wieder da war. Immer derselbe Traum.

Durchdrungen von immer demselben Lied und immer demselben Geruch.
Sie spürt keine Kälte, keine Wärme, keinen Schmerz. Sie hört nichts außer diesem Lied und sie riecht nichts außer diesem Gestank von kalter Asche, Essig und dem beißenden Geruch eines WC-Steins. Sie sieht nichts außer Dunkel und darin dieser Gegenstand: tiefes Grün, schimmernd, glänzend. Er ist ihr Anker, ihr Blick saugt sich daran fest, verhindert, dass sie verschwindet, sich auflöst ...

 

 

Ende der Leseprobe