Krimis

Familienbande - Ein Schottlandkrimi

von Michael Kothe

 Foto von Michael Kothe: Cover Familienbande, schottische Kleinstadt

Cover: M. Kothe

Das Verschwinden des sympathischen Timothy McPhallon führt die Suchtrupps ins schottische Hochmoor. Doch nicht nur Nebel und der alles verschluckende Regen lasten auf Aberdeenshire. So düster, wie wir uns das Bild von Nessies und Bravehearts Heimat machen, sind die Absichten einiger aus dem Clan der McPhallons. Sie stehen miteinander in Konkurrenz, doch wissen sie nichts von dem Wettstreit und davon, dass er tödlich enden mag ...

 

Familienbande ist einer der Beiträge in Kothes aktueller Sammlung 'krimineller Erzählungen' Schmunzelmord 2 (November 2022).


Leseprobe

 

Familienbande

1.

 

Was am weitesten zu hören war, war das Schmatzen ihrer Stiefel, wenn sie ihre Füße aus dem Morast zogen. Jedes dieser Schlürfgeräusche war begleitet von einem Blubbern, sobald die Gasblasen beim Aufplatzen den Fäulnisgeruch freigaben. Schritt für Schritt arbeiteten sie sich durch das Zwielicht voran­. Kalt war es, die dicken Jacken der einen hatten die Feuchtigkeit aufgesogen, während sie bei den anderen Männern ihren direkten Weg unter das Ölzeug gefunden hatte. Kaum einer hatte nicht die Schultern nach vorn gezogen, kaum einer zitterte nicht wenigstens ab und zu. Käsig lugte der Mond durch Lücken in der Wolkendecke und reflektierte sein fahles Licht auf dem Bodennebel. Nur, wenn sie sich gebückt bewegten, konnten sie erkennen, was die Lichtkegel ihrer Stableuchten durch den Dunst offenbarten. Doch auf dem Boden war nichts, nichts außer Sumpf, aufgeworfenen Torfbrocken oder halbvermoderten Pflanzenresten. Ab und zu erschollen Rufe, um die eigene Anwesenheit kundzutun oder um festzustellen, ob der nächste in der Suchkette nicht schon verschollen sei. Stets darauf bedacht, nicht gleichfalls Opfer des Moores zu werden wie der Mann, den sie gerade suchten.

Seit vier Tagen wurde Timothy McPhallon vermisst. In seinem Häuschen, das sich am Ende der Straße in den Hang duckte und dessen Steinwände fast mit dem Fels verschmolzen, war der sympathische Mann nicht anzutreffen, auch im Pub hatte ihn keiner gesehen. Vergebens schauten die jungen Frauen in dem Dorfladen nach dem gutaussehenden 30jährigen, von dem sie sich in einem ebenso lockeren wie anzüglichen Geplauder etwas Abwechslung von ihrem Landleben versprachen. In McPhallon Manor, dem Herrenhaus eine Meile außerhalb des Ortes, hatte man sich nicht getraut nachzufragen. Dorthin war er die letzten Jahre über nicht gegangen, warum also jetzt? Ohnehin wohnte dort nur noch der griesgrämige Butler, seit vor ein paar Tagen Aladair McPhallon als Letzter seiner Generation gestorben war. Alle seine Kinder hatte er im Lauf der vergangenen paar Jahre beerdigen müssen, es gab nur noch seine Enkel, seine Großneffen und Großnichten. Timothy war einer seiner Enkel. Offenbar gewesen, denn …

»Kommt mal hier herüber, ich hab etwas gefunden.« Gedämpft kroch die Stimme übers Moor, rief die äußeren Suchtrupps zusammen. Erleichtert tasteten sie sich dem Rufer entgegen. Zaghaft tauschten die Männer im Flüsterton untereinander ihre Kommentare aus.

»Es wird auch Zeit. Gott sei Dank hat die Schinderei ein Ende. Bei jedem Schritt zieht der Stiefel Gestank und Verwesung aus dem Moor. Verdammte Nacht, verdammte Nässe. Geht einem bis auf die Knochen! Morgen werd ich wohl im Bett bleiben müssen.«

»Oder ich treff dich besonders früh im Pub, wenn du deine Erkältung wieder mit Single Malt bekämpfst.«

Die Antwort war ein verhaltenes Lachen, das urplötzlich aufhörte. Der Sprecher hatte sich dem Rufer soweit genähert, dass er ihn erkannte. Gregor McBride, der Hüne von Kerl, der die Suchaktion leitete, wedelte ihnen mit einem Streifen Stoff entgegen. Die Ankömmlinge nahmen ihm den Fetzen aus der Hand und schenkten besonders den beiden Metallknöpfen daran ihr Augenmerk.

»Eindeutig von Tims Jacke. Diese Knöpfe mit der Adlergravur gibt‘s in ganz Schottland nicht nochmal. Woher hast du‘s?«

»Hing über dem Ast hier. Aber so eine Jacke reißt nicht, wenn einer im Vorbeigehen mal hängenbleibt. Da muss mehr passiert sein!«

In immer weiteren Kreisen schlich der Trupp gebückt um den kahlen Krüppelbaum, an dessen gebrochenem Ast der Stoff gehangen hatte. Ein kleines Areal, etwa halb so groß wie ein Fußballfeld, erhob sich knapp eine Manneslänge über das übrige Moor. Hier war der Boden fester als dort, wo die meisten bisher gesucht hatten. Zertrampelte Erde, niedergetretene Schilfstängel, Pfützen, deren Umrisse an Schuhsohlen erinnerten, gefüllt mit brauner Brühe. Den Spuren folgte einer, bis er außer Sicht geriet. Augenblicke später kam er hastig zurückgestapft, und sogleich beugten sich stämmige Männer in wärmenden Kapuzenjacken über ein Smartphone, auf dessen verschlammtem Display sich verwischte Fingerspuren deutlich abhoben.

 

2.

 

Sanft schmiegte sich das Cottage in die hügelige Weidelandschaft. Im Laufe des Vormittags waren die Nebel ins Tal hinabgezogen, sodass das Areal innerhalb der mannshohen Hecken um das kleine Anwesen im herbstlich fahlen Licht der tief stehenden Sonne lag. Wer ihn kannte, fand, dass Mortimer McPhallons Besitz wie auch er selbst einen ungepflegten, ja schon verwilderten Eindruck machten.

Aus dem Haus drangen erregte Stimmen. Die beiden Uniformierten, die gebückt durch den verkrauteten Garten streiften und hier und da mit Stöcken Halme oder Zweige zur Seite drückten, als suchten sie dazwischen etwas, hielten inne und blickten zum einzigen Fenster auf ihrer Seite. Es stand halb offen und erlaubte ihnen, das Gespräch mit anzuhören.

»Mortimer, wo hast du seine Leiche versenkt? Tims Telefon und einen Streifen von seiner Jacke haben wir gefunden. Im Moor. Seit eurem Streit ist dein Cousin verschollen. Das letzte Mal, als er gesehen wurde, hattet ihr beide euch angeblafft, und es sah aus, als wolltest du ihm an die Gurgel gehen.« Mit durchdringendem Blick sah Detective Inspector McBride den etwa 40jährigen McPhallon an. Der saß über die Tischplatte gebeugt auf einem Küchenstuhl, hatte die Ellbogen auf dem Tisch und drückte beide Hände fest an seine Schläfen. Dass seine letzte Nacht lang gedauert hatte und hart gewesen war, wäre auch ohne die Flasche und das Glas in der Spüle zu erkennen gewesen. Ab und zu stöhnte er geplagt auf.

Der Kriminalpolizist stand ihm gegenüber, beide Hände auf der Stuhllehne abgestützt. Als würde er gegen einen Fieberschub ankämpfen, waren seine Bewegungen langsam und wirkten fahrig, seine Augen waren glasig. Auch ihm hatte die letzte Nacht zugesetzt, zumal er sie im Moor und nicht mit Single Malt in einer ungemütlichen, aber trockenen Küche verbracht hatte. »Komm schon! Was hast du mir zu sagen?«

»Nichts. Gar nichts. Glaub mir, Gregor, damit hab ich nichts zu tun. Wir haben uns gestritten, es ging um das Fußballderby mit dem Foulelfmeter. Hier. In der Küche. Wir hatten was getrunken, und als er gegangen war, hab ich weitergemacht. Ich hab Tim nicht umgebracht, und im Moor war ich nicht mehr, seit …« Als sei er froh, nicht mehr weiterreden zu müssen, brach Mortimer ab. Ruckartig drehte er den Kopf, um seine Aufmerksamkeit der plötzlichen Störung zu widmen.

Polternd drückte ein Constable mit der Schulter gegen die Küchentür. Einen Augenblick später baute er sich atemlos vor DI McBride und Mortimer McPhallon auf. Erst, als nach ein paar Worten sein Hecheln aufhörte, wurde seine Stimme klar.

»Inspector, ich hab seine Stiefel gefunden. Hinten in der Hütte. Mit frischer Erde aus dem Sumpf in den Profilen. Die Sohlen sind noch feucht.«

Eine so schnelle Bewegung hatten beide Polizisten dem verkatert wirkenden McPhallon nicht zugetraut, und so hielt ihn keiner auf. Abrupt war der Verdächtige von seinem Stuhl aufgesprungen, schubste mit beiden Händen den Constable mit unerwarteter Kraft zur Seite und zwängte sich an ihm vorbei in den Flur. Geistesgegenwärtig drückte der Polizist seinem Vorgesetzten das derbe Schuhwerk in die Hände und nestelte die Trillerpfeife aus der Brusttasche. Auf das durchdringende Pfeifen hin stürmten die zwei Policemen vom Garten ins Haus und stellten den Flüchtigen noch im Hausflur. Indem sie ihm einen Arm auf den Rücken drehten, zwangen sie ihn in gebückter Haltung zurück in die Küche.

Dort erhob sich McBride gerade aus der Hocke und drehte dicht vor seinen Augen ein rundes Metallstück hin und her. Dann hielt er es dem Verhafteten vor die Nase, so dass der das flache Relief mit dem Adler nicht übersehen konnte. »Das ist eben aus deinem Stiefel gefallen, als ich ihn umdrehte.«

Keuchend hob McPhallon den Kopf, sah McBride trotzig in die Augen. »Das is‘ doch ‘n Komplott! Ihr könnt mich mal!« Dann spuckte er vor dem Kriminalbeamten auf den Boden.

Der Inspector reagierte nur mit einer Kopfbewegung hin zu den drei Constables. »Bringt ihn zur Wache und sperrt ihn ein. Ruft Richter Duncan an. Ich komme nach, will mich hier noch etwas umsehen.«

 

In der Presse sorgte die Bluttat für Schlagzeilen. Reporter begnügten sich um der Auflagenhöhe willen gar nicht damit, nur Tatsachen wiederzugeben, sondern gaben sich allen möglichen Spekulationen hin. Das wahre Motiv Mortimer McPhallons wurde nie geklärt, die Leiche seines Opfers nie gefunden. Dennoch gab es in ganz Aberdeenshire niemanden, der nicht von der Schuld dieses Scheusals überzeugt war.

Bei Mord reagieren die Gerichte recht schnell. Besonders, wenn die Indizienlage eindeutig scheint und der Leumund des Angeklagten zweifelhaft ist. Mortimer stand im Ruf eines trunksüchtigen Randalierers und Raufbolds, nicht nur seinen Cousin Timothy hatte er schon des Öfteren vor Zeugen angepöbelt und ein paarmal verprügelt. So sorgten die Gutachter, die an den Stiefelsohlen Erde und Torfwasser von der Fundstelle des Telefons und des Jackenstücks nachgewiesen hatten, der Jackenknopf selbst und vor allem die Fingerabdrücke auf Tims Smartphone für einen schnellen Schuldspruch. Dass es keine Leiche gab, schien kein Hindernis zu sein. Mortimer saß während der Verhandlung in Aberdeen zusammengesunken auf der Anklagebank, sprach mehr zu sich selbst als mit seinem Anwalt und hatte dem Urteil einer langjährigen Freiheitsstrafe nichts entgegengesetzt.

3.

 

In ihrem Cottage hatten es sich Alan und Susan Twister im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Auf ihren Protest hin hatte er gerade seine Füße, die in karierten Wollsocken steckten, vom Couchtisch genommen. Von seiner Zeitung hatte er nicht aufgesehen.

»Schau mal hier! Dein Cousin Mortimer hat sich in der Nacht von vorgestern auf gestern in seiner Zelle erhängt. Der Gerichtsmediziner …«

Er zuckte zusammen ...

 

 

Ende der Leseprobe