Mystik / Fantasy

Mittsommerfund: VERDAMMT, VERBRANNT, VERLOREN?

von Sabine Reifenstahl 

Cover: S. Reifenstahl

Unheimliche Ereignisse in Lüttpütt werfen lange Schatten voraus. Niemand betritt in der Mittsommernacht die Bleichertannen!
Die urbane Legende verlockt Jasmin, nachts in den Wald zu ziehen und die Geschehnisse beim Hexenring für ihren Blog zu dokumentieren. Für ihre Follower nimmt sie Kälte, blutrünstiges Ungeziefer und Dunkelheit in Kauf und mimt die Furchtsame, ohne wirklich mit etwas Außergewöhnlichem zu rechnen.
Was sie in dieser Sonnenwendnacht erlebt, verändert alles: Ein Fremder taucht auf und öffnet ein Portal aus Licht.
Jasmin wird Zeugin einer unglaublichen Szene, hört eine eisige Stimme aus einer anderen Welt ...


Leseprobe

 

VERBRANNT, VERDAMMT, VERLOREN?

 

 

 

Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.

Aus »Der kleine Prinz«, Antoine de Saint-Exupéry

 

1 Von Sommerflauten und Zeitungsenten

 

»Sommerflaute«, hörte ich und rollte innerlich mit den Augen. »Niemand will von einer Konjunkturschwäche in der warmen Jahreszeit hören! Die Idee ist noch langweiliger als die Zeitungsenten während des berüchtigten Sommerlochs.« Skeptisch schaute ich meinen Herausgeber Hansi Müller an. Er veröffentlichte die Zeitung des Heimatvereins und betrieb einen winzigen Verlag am Ort.

Ehrenamtlich half ich ihm in der Hoffnung, Anschluss in der Kleinstadt zu finden. Vom unwiderstehlichen Jobangebot einer Werbeagentur angelockt, war ich in dem verträumten Örtchen an der Elde gelandet und hatte bereits beim ersten Abendspaziergang erkannt, wie grundlegend der Umzug mein Leben auf den Kopf stellen würde. Raus aus der lärmenden Großstadt, hinein ins Idyll. Für mich Hamburger Deern eine riesige Umstellung. – Spontan verliebte ich mich in meine neue Heimat Lüttpütt und wollte ihr zur verdienten Anerkennung verhelfen. – Bestimmt nicht mit einem Thema wie Sommerflaute! »Genauso gut könnten wir Nessi aus dem Wockersee zerren – oder wie wäre es mit einer Nixe?«

»Sehr witzig! Wir brauchen einen Aufhänger, einen echten Kracher, der Touristen anzieht.«

Beim Anblick des spitzbübischen Grinsens stieß ich einen Stoßseufzer aus. »Das mit der Sommerflaute war ein Witz, oder? Nu mal Butter bei die Fische, spuck’s aus!«

Eine Akte mit Heften, Kopien und einem Almanach krachte auf meinen Schreibtisch, ich überflog die Unterlagen und schüttelte den Kopf. »Klingt nach einer fußlahmen Zeitungsente und ist kaum besser als dein erster Vorschlag oder Nessi. Ein Feenkreis aus Fliegenpilzen? Soll ich über Magic Mushrooms schreiben?«

»Jasminchen, das ist eine örtliche Legende. In den Bleichertannen treibt das Böse sein Unwesen. Wenn wir live davon berichten … Als Auswärtige kümmern dich die abergläubischen Ängste der Einheimischen nicht. Du bist sicher mutig genug, den Dingen auf den Grund zu gehen.«

Nachdenklich betrachtete ich eine Federzeichnung von einem hageren Wesen, das entfernt an Nosferatu erinnerte. »Vampire in Lüttpütt? Das wäre es!« Der nebenstehende Text erwähnte einen Jäger, der dem Schattenwesen an Mittsommer begegnet war. Dreimal, so berichtete er, hatte das Geschöpf den Hexenring umrundet, woraufhin ein Portal erschien. »Jägerlatein!«, kommentierte ich, obwohl das Ziehen im Bauch eine Story verhieß.

»Niemand mit Verstand betritt die Bleichertannen zur Sommersonnenwende. Um Mitternacht geschehen dort sonderbare Dinge: Menschen verschwinden, andere tauchen plötzlich auf. Seit Jahrhunderten geht dies Gerücht.« Hansis Stimme bebte bei den letzten Worten.

Unsicher musterte ich ihn, googelte Hexenkreis in den Bleichertannen und drehte das Handydisplay in seine Richtung. »Dösbaddel, du willst mich verarschen. Da steht nichts von so einer Legende.«

»Weiß ich doch, aber dafür könntest du sorgen. Ein Life-Video auf deinem Blog. Dir folgen ein paar k’s.«

Mir klappte die Kinnlade herunter. Allein der Umstand, dass Hansi von k statt Tausend sprach, überraschte mich. Die Idee, meine von ihm als plattes Gedöns verspotteten Beiträge für seine Zwecke zu nutzen … Ich holte tief Luft, um ihm die Meinung zu geigen.

»Jasminchen«, kam er mir zuvor. »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir mit der Zeit gehen müssen. Wie wäre es, wenn du deinen Blog direkt auf unserer Homepage teilst?«

»Ich denke, meine Literaturrezensionen …«

»Die sind ganz nett, gibt es allerdings zuhauf. Wie wäre es mit einer richtigen Story? Du hast schon mal was über urbane Legenden gebracht.«

»Slenderman ist nicht das gleiche wie ein Hexenkreis in Lüttpütt.«

»Der ist doch viel besser: Touristen können ihn besuchen, nebenher was über unsere wunderschöne Stadt erfahren, eine Elderundfahrt machen … Verstehst du? Wir vermarkten Lüttpütt, verteilen QR-Codes auf Merchandising-Produkten, drucken die Geschichte in der Zeitung und im Amtsblatt, immer mit Link zu deinem Webauftritt. – Eine Win-win-Situation! Du bekommst Klicks, ich einen spannenden Artikel und unsere Stadt Aufmerksamkeit. – Übrigens heißt der Pilzkreis bei uns Feen- und nicht Hexenring. Es wird gemunkelt, er brächte einen in die Feenwelt.«

»Feenwelt?« Amüsiert kicherte ich.

Als mein Herausgeber mit ernstem Gesichtsausdruck nickte, verkniff ich mir weitere Heiterkeitsbekundungen. Unter Feen stellte ich mir niedliche Flügelwesen vor, die von Blüte zu Blüte schwebten.

Abermals blieb mein Blick an der Federzeichnung hängen. Die Idee faszinierte mich allmählich, ich plante etwas in Richtung Blair Witch Project, würde live von meiner Tour berichten: ein bisschen Panik, Finsternis, Schatten – unheimliche Ereignisse im nächtlichen Forst – ein Pilzkreis öffnet magische Pforten in die Anderswelt.

Die Schlagzeilen leuchteten bereits auf meinem inneren Werbebanner. Jede Menge Traffic für Website und Blog.

Zum Glück war ich weder abergläubisch noch zart besaitet. Bei Dunkelheit in den Wald zu spazieren, hielt ich für ungefährlicher, als des Nachts durch eine Großstadt zu schlendern.

 

 

2 Unheimliche Begegnung in den Bleichertannen

 

Am Mittsommerabend sortierte ich meine Ausrüstung in einen Rucksack und tippte die Geodaten in die Navigations-App.

Bis zum Parkplatz am Waldrand fuhr ich eine knappe Viertelstunde. Dort parkte ein riesiger Jeep – vermutlich der eines Jägers. Von wegen, die Einheimischen meiden den Ort!

Mir war nicht wohl dabei, in der Nähe eines bewaffneten Fremden durchs Unterholz zu pirschen. Kampfkunstgriffe und die beiden Dosen Pfefferspray dürften da kaum helfen. Andererseits: Den Mutigen gehört die Welt! Von einer unmittelbaren Bedrohung ging ich nicht aus, die Verwechslungsgefahr mit einem Rehbock schien marginal.

Beim Aussteigen begrüßte mich ein laues Lüftchen, das von Insekten brummte. Gierig wurde ich von blutrünstigen Biestern attackiert. Mit reichlich Mückenspray begegnete ich dem Angriff, nahm die braunen Locken zum Zopf zusammen, schulterte das Gepäck und marschierte entschlossen los. Das gedimmte Mobiltelefon wies mir die Richtung.

Bis zum Hexenkreis lagen rund drei Kilometer Fußmarsch vor mir, keine Herausforderung auf dem ebenen Weg. Genüsslich atmete ich die Nachtluft ein, roch Tannengrün, feuchtes Laub und wiederholt die scharfen Aromen von Fuchs, Wildschwein und Co., schauderte kurz bei dem Gedanken, eine Bache mit ihren Frischlingen aufzuschrecken. Die Bedenken schüttelte ich mit der Begründung ab, dass Wildtiere bessere Instinkte als Menschen besäßen.

Blätter raschelten unter den Sohlen meiner Wanderschuhe, irgendwo rief ein Käuzchen, ein Stück entfernt knackten Äste. Nachtaktives Getier erfüllte den Wald mit Leben. Ich kam mir vor wie ein Eindringling und vermied es bewusst, beim Gehen auf trockene Zweige zu trampeln.

Zeit für eine Direktübertragung, ein paar ruckelige Bilder zum Spannungsaufbau. Ohne anzuhalten, richtete ich den Selfiestick auf mein Gesicht, blickte mit gespielter Sorge umher, schlich verstohlen durch den dunklen Forst. Atmosphäre ist alles, weniger bringt meist mehr. Daher stoppte ich den Livestream und checkte die Reaktionen. Zahlreiche Klicks, aufmunternde Kommentare – der Plan ging auf.

Als ich mich dem Bestimmungsort näherte, schien die Luft deutlich abzukühlen. Ärgerlich verwünschte ich die Entscheidung, ohne Jacke losgelaufen zu sein, doch zum Umkehren war es zu spät. Galgenhumor ließ mich aus der Not eine Tugend machen, ich setzte die Aufnahme in der Absicht fort, den Szenen mit dem Schlottern zusätzliche Authentizität zu verleihen.

Nach einem letzten Rundumblick hielt ich das Video erneut an und rieb über die nackten Oberarme, es war erbärmlich kalt. Mit klammen Fingern tippte ich: Schlag Mitternacht sollen sich die Pforten zur Anderswelt öffnen. Wem werde ich wohl begegnen?

Smileys, Hugs, Likes. Weitere Follower hatten sich zugeschaltet.

Der Weg endete auf einer mondbeschienenen Lichtung. Nachdenklich überflog ich die silberhell erleuchtete Wiese und seufzte. Nicht unheimlich, aber unheimlich schön. Eine schaurig-schattige Atmosphäre wäre mir dennoch lieber gewesen. Laut tröstete ich mich mit einem »Man kann nicht alles haben!« und taxierte den Platz. Fliegenpilze bildeten ein sauber abgezirkeltes Rund, der Hexenkreis harrte unversehrt aus, als warte er auf seinen Auftritt. Eilig schoss ich ein paar Fotos und startete eine kurze Aufzeichnung von der Umgebung.

Die sind nicht echt!, las ich einen vorlauten Kommentar.

»Klugscheißer!«, murmelte ich und scrollte weiter. Viel zu regelmäßig, um natürlich zu sein. Außerdem ist das kein Feenring!, schrieb der nächste Besserwisser und lieferte mir eine Steilvorlage.

Ernst blickte ich in die Kamera. »Ganz recht! Was man gemeinhin als Feenring bezeichnet, sieht anders aus. Auf meinem Blog findet ihr ein paar Bilder und die Informationen, die ich über Hexenkreise gefunden habe.« Bedeutungsschwer schwenkte ich zur Pilzformation, von dort zurück auf mein Gesicht. »Das nennen die Einheimischen Feenring. Es heißt, er öffnet einen Zugang zur Anderswelt. Dieser Kreis ist eindeutig übernatürlich, genau deshalb sind wir hier. – Ist er ein Tor? Was wird sich mir offenbaren? – Bleibt dran! Ich melde mich Schlag Mitternacht zurück!«

Sehnsüchtig schaute ich zum Himmel in der Hoffnung auf Wolken. Umsonst. Kalt blinzelten mir zahllose Sterne vom samtschwarzen Firmament zu, kein Dunsthauch verhüllte das grinsende Mondgesicht. Statt umgeben von mystischen Schatten stand ich auf einer in sanftes Leuchten getauchten Lichtung und fragte mich, wie ich damit meine Zuschauer erschrecken sollte. Ich hätte einen Statisten engagieren sollen, doch das widersprach meiner Bloggerehre. Der Wahrheit verpflichtet! Plan B lautete: Enttarnung einer urbanen Legende als Mumpitz – und gleichzeitig auf die Schönheit der Gegend verweisen. Daher machte ich weitere Fotos und bat den heiligen Hubertus um einen Vierzehn-Ender oder ein anderes imposantes Wildtier.

Mein innerer Zettelkasten füllte sich mit Notizen an mich selbst, Schnipsel, um den Feenkreis bestmöglich zu verkaufen. Fliegenpilze auf einer Wiese eignen sich nur bedingt als Sensation. Im Stillen hatte ich auf einen glücklichen Zufall gehofft, der mir Beschwörungen murmelnde Neo-Heiden oder laternenschwingende, tanzende Mittsommermaiden in durchscheinenden Schleiern vor die Kamera spülen würde. Die meisten Legenden gründeten auf einem Quäntchen Wirklichkeit …

Gedankenverloren suchte ich mir ein Versteck im Gebüsch und baute das Stativ auf. Zumindest musste ich mir nicht mehr lange den Hintern abfrieren, es war Viertel vor zwölf. Ein schräger Gedanke kam mir. Mit einem Grinsen schlenderte ich zum Hexenkreis. Das würde meinen Followern gefallen.

Zwinkernd teilte ich ihnen mit: »Urbane Legenden! Mal sehen, was dran ist an der Geschichte!« Langsam umrundete ich die Pilze.

»Einmal!« Ich stoppte, drehte das Handy, damit die Zuschauer einen Eindruck von der Umgebung bekamen, schritt weiter.

»Zweimal!« Etwas Klammes schien sich in meinem Nacken niederzulassen und brachte meine Stimme zum Beben. »Genau das passiert stets in Horrorfilmen. Die Dummköpfe rufen dreimal Bloody Mary, oder sie schauen sich wider besseres Wissen ein verbotenes Video an. Uuhhha!«

Mein Herzschlag beschleunigte, unsicher tappte ich zum dritten Mal um den Feenkreis, musterte dabei beunruhigt den Waldrand.

»Dreimal!«, murmelte ich, machte einen Kameraschwenk und atmete erleichtert auf. »Das war das geheime Ritual. Richtiger Ort, falsche Zeit. Glück gehabt!«

Ein lautes Knacken ließ mich zusammenfahren. Hektisch schlug ich mich in die Büsche, prüfte die Kamera und warf einen flüchtigen Blick aufs Handy. Gleich 24:00 Uhr!

 

Jemand betrat die Lichtung, blieb stehen, blickte umher, näherte sich vorsichtig dem Hexenkreis ...

 

 

Ende der Leseprobe